Atmung entwickeln

Intro

Seit Jahrhunderten beschäftigen Körperübungen in Form von Kampfkünsten die Menschen verschiedenster Kulturen. Karate ist ein Beispiel. Es handelt sich um eine «vorgeführte Kunst»: Jede Bewegung ist eine Kombination von technischer Gestaltungskompetenz, physischer Kraft und geistiger Haltung. 

In diesem Lernbaustein lernst du, wie du qualitative Voraussetzungen schaffen kannst, um die Entwicklung der Karateka ganzheitlich zu unterstützen. Der angepasste Einsatz von Atemtechniken ist eine der wichtigsten Handlungskompetenzen, um dieses Ziel zu erreichen. Dank der Atmung können die Spannungsverhältnisse im Körper wirkungsvoll reguliert und die Freisetzung der Energie verbessert werden.

Basics

Artefakt

Der Mensch braucht eine körperliche Grundspannung, um sich halten und bewegen zu können. Im Karate – wie in anderen Bewegungskünsten auch – ist eine optimal regulierte Körperspannung erstrebenswert. Ist sie gering, vermittelt sie über die Haltung Unsicherheit. Ist der Muskeltonus dagegen erhöht, kann sich dies ungünstig auf die Körperhaltung oder die Muskelkraft auswirken. Die Atemtechnik hilft, die Regulierung der Körperspannung zu verbessern.

Denken, Fühlen und Bewegen beeinflussen sich in einer ständigen Wechselwirkung. Der Körper steht in einer komplexen dynamischen Beziehung mit der Umwelt (Zuschauer, Kampfverlauf, Gegnerverhalten, Schiedsrichterentscheidungen etc.). Die Sinne, Muskeln und Organe bilden eine Art «Online-System» zur laufenden Verarbeitung von Reizen und Informationen. Ein grosser Teil der Verarbeitungsprozesse geschieht unbewusst. Die Wirkung dieser Vorgänge auf die Emotionen und die Grundspannung des Körpers beeinflusst aber unser Handeln. Deshalb wird in der überlieferten Methodik des Karate dem Atmen Beachtung geschenkt. Eine entwickelte Atemtechnik fördert das Synchronisieren der unbewussten und bewussten Wahrnehmungsprozesse, die während dem Gestalten von Bewegungen ablaufen.

Da die Rhythmisierung von Spannung und Entspannung (Kime) eines der wichtigsten Qualitätsmerkmale des Karate ist, erhält die Atmung eine technische und methodische Bedeutung für den Wechsel von einem Spannungszustand in den andern. Sie eignet sich zur Einleitung von Entspannungsprozessen und hat eine leistungssteigernde Wirkung auf die physische Kraft. Dank ihr kann das Verhältnis von Spannung und Entspannung reguliert und so die innere Balance verbessert werden.

Die methodische Entwicklung der Atemtechnik beinhaltet vier inhaltliche Bereiche. Überlege dir, welche es sind.

- Entwickeln der Zwerchfellatmung
- Fördern der Entspannung
- Verbessern der Muskelleistung
- Gestalten von Spannung und Entspannung

Es macht Sinn, im Schlüsselbereich F Grundlageübungen zu allen vier Themen im Unterricht einzubauen. Sie können als ergänzende Übungen oder als integrierte Übungselemente der Trainingsformen eingesetzt werden. In allen Entwicklungsphasen ist der Atem ein zentrales Thema und wird deshalb stufengerecht weiterentwickelt.

Zwerchfellatmung

Stefan A. Tschanz / Institut für Anatomie, Universität Bern

Das Zwerchfell ist ein grosser Atemmuskel und liegt als kuppelförmige Platte unterhalb der Lungen. Es trennt die Brusthöhle von der Bauchhöhle. Beim Einatmen (Inspiration) kontrahiert es sich. Der Brustraum vergrössert sich und der Unterdruck in der hermetisch abgeschlossenen Pleurahöhle (Spalt zwischen der Brustwand und der Lunge) wird erhöht: Die Lunge dehnt sich aus und saugt dadurch Luft an. Während diesem Vorgang verringert sich der Platz unterhalb des Zwerchfells. Die Bauchorgane verlagern sich entsprechend, so dass sich die Bauchdecke anhebt. Daher wird auch der Name Bauchatmung verwendet. Das Ausatmen (Exspiration) erfolgt durch das Entspannen des Zwerchfells. Aufgrund ihrer Eigenelastizität zieht sich die Lunge wieder zusammen und presst die Luft aus. Die Bauchdecke bewegt sich zurück in die Ausgangslage.

Prinzipien

Eine geschulte Atemtechnik fördert die Qualität der Bewegungen. Die folgenden Prinzipien helfen, spezifisches Wissen des Karate für sich nutzbar zu machen. Es handelt sich um Informationen, die den Trainingsprozess optimieren. Sie sind als Handlungsempfehlungen zu verstehen und beleuchten Hintergrundwissen zu methodischen Ansätzen.

Fokus: Atemrhythmus halten

Das kontrollierte Ausführen der vier Atmungsphasen fördert ein ruhiges, rhythmisches Atmen, hat eine entspannende Wirkung und fördert das Verständnis für den Bewegungsfluss. Es ist nicht einfach, die Bewegungen des Zwerchfells zu spüren. In der ersten Lernphase erfordert es Willensanstrengung, um die gewünschten Atemmuskeln zu aktivieren. Es wird also mit einer höheren Spannung geatmet als notwendig. Mit zunehmenden Fertigkeiten können wir entspannter, gleichmässiger und natürlicher atmen. Die vier Phasen der Zwerchfellatmung bilden die Grundlagen für alle Anwendungsformen der Atemtechnik im Karate.

Fokus: Körperhaltung bewahren

Das Entwickeln der Atemtechnik erfolgt idealerweise sitzend, kniend oder stehend. Im Zusammenhang mit der Bewegungskoordination ist die Wirbelsäule als Stabilisierungs- und Übertragungselement sämtlicher technischer Ausführungen zu verstehen. Deshalb ist es sinnvoll, das Atmen mit einer aufrechten Wirbelsäule zu üben. So ist die Übertragung der Atemtechnik in die Trainingsformen effizienter. Deshalb sollte das Training mit Kräftigungs- und Beweglichkeitsübungen für die Wirbelsäule ergänzt werden. Oft ist sie zu steif und im Lendenwirbelbereich zu schwach. Das Muskel-Skelettsystem sollte flexibel und nachgiebig reagieren können, damit die Wirbelsäule beim Entspannen immer wieder ihre ideale Haltung annimmt.

Fokus: Entspannung üben

Die bewusste Regulation des Atems findet in vielen Entspannungs- und Meditationstechniken Anwendung. Sie spielt eine wichtige Rolle bei der Induktion und Vertiefung der Entspannung. Autogenes Training, Zazen, Yoga oder Qigong sind Beispiele dafür. Der gesundheitliche Nutzen von Entspannung ist mittlerweile gut erforscht. Zwischen Entspannungs- und Atemtechniken ergeben sich zahlreiche Querverbindungen, welche die Wirksamkeit interaktiv fördern. Man könnte den Zusammenhang mit folgender Formel verallgemeinern: Nur über die Entspannung der Atmung finden wir zu wirklicher Entspannung. Hilfreich ist es, vor dem Atem- und Entspannungstraining eine progressive Muskelrelaxation durchzuführen. Karate auf einer fortgeschrittenen Stufe beinhaltet die Fähigkeit, nach erfolgter Aktion wieder in einen entspannten Zustand zu gelangen.

Fokus: Spannung erhöhen

Im Krafttraining gilt die Faustregel, während der konzentrischen Phase (Anspannung) auszuatmen und während der exzentrischen Phase (Entspannung) einzuatmen. Trotz hoher Belastung wird versucht, weiterhin ruhig und tief zu atmen. Karate folgt dem gleichen Prinzip, ist aber rhythmisch anspruchsvoller umzusetzen: Die Bewegungssequenzen beinhalten komplexe Rotationsbewegungen und vielfältige rhythmische Kombinationen von konzentrischen und exzentrischen Phasen. Ein wichtiges Element ist die Spannung des Rumpfes: Neben der Atemfunktion wird das Zwerchfell zusammen mit den Bauchmuskeln zum Druckaufbau eingesetzt. Sie kontrahieren sich gleichzeitig, so dass die Wölbung des Bauches unterbunden wird. Das Ausatmen wird mit einer Art von Atemstütze ausgeführt. Sie ist eine bewusst muskulär ausgeführte Atemtechnik, die dazu führt, dass der Rumpf seine Spannung während des Ausatmens nicht verliert.

Fokus: Innere Balance finden

Karate zeichnet sich durch Kraft und Schnelligkeit aus. Eine wichtige Voraussetzung ist die Haltekraft als Zusammenwirken aller Körperteile. Wir benötigen sie, um Stabilität zu erlangen. Die Grundlage für die Schnelligkeit der Angriffsaktionen bildet die Explosivkraft: Der Körper befindet sich in einem entspannten Zustand. Während der Aktion wird die Spannung schnellstmöglich aufgebaut und ist im Endpunkt am höchsten. Beide Anwendungsformen der Kraft (Haltekraft, Explosivkraft) werden mit der Zwerchfellatmung unterstütz. Beim Einsatz der Haltekraft bleibt das Spannungsniveau konstant. Explosive Schlagtechniken werden mit einem schnellen Wechsel von Spannung und Entspannung ausgeführt. Die Gestaltung von technischen Formen zielt auf eine Balance zwischen Spannung und Entspannung hin. Sie wird mithilfe der Atemtechnik reguliert.

Good Practice

Damit deine Karateka stufengerecht und effizient Lernfortschritte erzielen, ist es entscheidend, wie du die technischen Inhalte vermittelst. Im J+S Leiterkurs lernst du dies anhand von konkreten Praxisbeispielen für den Schlüsselbereich Foundation. Karate lernen bedeutet auch, seine Atemtechnik auszubilden. Sie kann bei Entspannungsübung, im Krafttraining oder beim Ausführen von technischen Abläufen gezielt geübt werden. Sobald die Atmung im Fokus des Übens steht, soll die Aufmerksamkeit auf die Rhythmisierung gelenkt werden. Sie wird in vier Phasen realisiert:

Inspiration

Postinspiration

Exspiration

Postexspiration

Methodik

Nicht jede Trainingsform ist für jedes Alter geeignet. Folgende Trainingsmöglichkeiten dienen dir als allgemeine Orientierung:

  • Zwerchfellatmung als qualitative Voraussetzung
  • Zwerchfellatmung als Methode des Entspannens (z.B. Mokuso)
  • Kombinieren von Atemtechnik und mentalen Trainingsformen (altersgerecht)
  • Krafttraining kombiniert mit Zwerchfellatmung
  • Stellungstraining statisch (Stärken des Stützapparates; Reduktion der Spannung ohne Leistungsabfall)
  • Entspanntes, langsames Ausführen von Bewegungsabfolgen (Haltung beachten!)
  • Langsames Ausführen von Bewegungen unter erhöhter Körperspannung
  • Rhythmisierung von Abfolgen, die langsame (Haltekraft) und schnelle (Explosivkraft) Bewegungen beinhalten

Im Leiterkurs erfährts du, wie du die verschiedenen Trainingsmöglichkeiten miteinander vernetzest und wie du sie stufengerecht in deinem Unterricht anwendest.

Reflexion

  • Welche Erkenntnisse hast du beim Erarbeiten dieses Lernbausteins gewonnen?
  • Welche Unterschiede bestehen beim Atmen zwischen «Entspannen» und «Spannen»?
  • Wann ist – unter welchen Bedingungen, Umständen und Voraussetzungen – «Atmen» effizient?

Quiz

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Transfer

Überlege dir, wie du deine Trainings aufgrund deiner Erkenntnisse anpasst. Notier dir jeweils zwei oder drei konkrete Übungen, die du in der Einleitung, im Hauptteil und für den Ausklang einsetzen kannst. Vergiss nicht, nach dem Training diese Übungen und ihre Wirkung zu reflektieren. Hierbei helfen dir folgende Leitfragen: 

  • Wie ist es dir gelungen, Bewegungsaufgaben zu stellen, welche die Kinder und Jugendlichen motivieren, die Atemtechnik zu erproben und zu erfühlen?
  • Wie beobachtest und beurteilst du den Lernfortschritt?
  • Konntest du geeignete Hilfestellungen leisten?
  • Welche haben gut funktioniert und welche waren eher weniger geeignet?
  • Wie könnte die Trainingsidee effizienter umgesetzt werden? • Wie möchtest du den Trainingsprozess in den kommenden Trainings fortsetzen?

Quiz

Löse die Quizaufgaben und überprüfe am Schluss deine Ergebnisse.